Bin ich falsch, so wie ich bin?

Wenn von der Belastung dicker Menschen die Rede ist, denken viele vermutlich zuerst an die körperliche Belastung, die das Mehrgewicht mit sich bringt und nicht an die seelische Last, die von der Gesellschaft verursacht wird.

Body-Positivity ist das Schlagwort einer Bewegung, die ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Schönheit eines jeden Körpers schaffen will. Egal ob behaart, vernarbt, mit Cellulite oder hängenden Brüsten – jeder Körper ist schön und sollte respektiert werden. Leider ist dieses Verständnis noch nicht in allen Teilen der Gesellschaft angekommen. Ein althergebrachtes Ziel von Spott, Ablehnung und Benachteiligung sind Menschen mit Übergewicht. Wobei allein schon dieses Wort problematisch ist. Der Trend geht zum Terminus „Mehrgewicht“. Die Menschen wiegen zwar mehr als andere, immer mehr lehnen es aber ab, dass eine mehr oder weniger offizielle Gewichtsgrenze gezogen wird, die sie vermeintlich überschreiten. Betroffene tragen meist auch eine enorme seelische Last mit sich herum, die ihnen von der Gesellschaft in Form von Beleidigungen oder Benachteiligungen aufgebürdet wird. Anhand einiger anonymer Erfahrungsberichte, welche wir u.a. über die Plattform Jodel eingeholt haben, wollen wir euch während unseres Artikel an den Erfahrungen teilhaben lassen, die diese Menschen tagein tagaus machen müssen.

„Wenn ich mir heute Kinderbilder von mir ansehe, sehe ich einen absolut durchschnittlichen Kinderkörper. Aber von anderen Kindern und auch aus der Familie musste ich mir stets Bemerkungen über meinen Körper, mein Gewicht anhören, bis ich mir eines Tages dachte: Ach egal, ich bin ja eh fett. Da macht die Tüte Chips auch keinen Unterschied.“ Manchmal ist die Ablehnung mehrgewichtiger Menschen so selbstverständlich, dass mitten in der Öffentlichkeit und für jeden hörbar herablassende Bemerkungen fallen. Es bleibt offen, ob es den Umstehenden nicht auffällt, weil sie die Vorstellung der Täter:innen von normschönen Körpern teilen, die Vermutung liegt jedoch nahe.

„Blicke beim Einkaufen, wenn man sich mal was gönnen möchte und etwas Süßes aufs Band legt. Mütter die ihren Kindern sagen, dass sie mal so aussehen wie ‚die Tante da drüben‘, wenn sie noch ein Eis wollen. Junge, sehr dünne Frauen, die am Strand Fotos von einem machen.“

„Ich wurde bereits mehrfach im Vorbeigehen angespuckt und einmal sogar mit Steinen beworfen. Dabei wurde mir jedes Mal so etwas wie ‚fette Sau‘ oder ‚nimm doch mal ab‘ hinterhergerufen.“

„Es kam mal eine Gruppe junger Männer auf mich zu. Sie meinten, sie würden mich zum Bettsport einladen und so lange Spaß mit mir haben, bis ich mich schön und schlank fühlen würde.“

Und auch in Sphären, die von Mitmenschen und Einrichtungen eine gewisse Professionalität verlangen, kommt es mitunter zu Beleidigungen und Diskriminierung mehrgewichtiger Menschen. Dies kann in ganz alltäglichen Situationen, wie etwa beim Shopping vorkommen.

„Ich war im Schuhgeschäft und probierte Stiefel an, als eine Mitarbeiterin mich ansprach und meinte, ich müsse die Schuhe aber auch bezahlen, sollte ich sie kaputtmachen.“

„Ich fühle mich, als müsste ich mich mit meinem Körper verstecken. Immerhin sind die Klamotten in den Größen, die mir passen, auch in der letzten Etage und in der letzten Ecke versteckt. Dort wo dicken Menschen niemand beim Shoppen zusehen muss.“

Besonders problematisch wird es vor allem, wenn die Vorurteile auch das Berufsleben infiltrieren. So ist es nicht unüblich, dass Mitarbeiter:innen oder sogar Vorgesetzte ein persönliches Problem mit fetten Körpern haben, welches sie mit an den Arbeitsplatz nehmen. Dies resultiert in Mobbing, Ausschluss oder aber in die Bevorteilung normgewichtiger Kolleg:innen.

„Bei meinem letzten Job in einem Restaurant wurde ich vom neuen Chef konsequent für niedere Dienste mit weniger Trinkgeld eingeteilt. Nachdem mir ein Stammgast verriet, dass sich mein Vorgesetzter in seiner Gegenwart abwertend über mein Äußeres geäußert hatte, wurde mir klar, dass er mich wegen meines Gewichts benachteiligte, denn ich hielt mich an denselben Dresscode und war genauso gepflegt wie meine schlankeren Kolleginnen.“

Und wenn man sich etwa bei Arbeitsunfähigkeit, sei es wegen ebenjener seelischer Drangsal oder körperlicher Beschwerden, an Ärzt:innen wendet, ist man leider auch in der Praxis nicht sicher vor verletzenden Äußerungen, die nur selten konkret etwas mit dem Vorstellungsgrund zu tun haben.

„Mein Frauenarzt meinte, wenn ich noch ein Kilo zunehme, würde ich nicht mehr auf den Stuhl passen.“

„Ich war (wie sich hinterher herausstellte) mit einer waschechten Grippe bei meiner Hausärztin. Nachdem ich, völlig neben mir stehend, von meinen Symptomen erzählte, fing sie an zu lachen, sah mich von oben bis unten an und meinte dann, da solle ich mich bei meinem Körper nicht wundern, es sei offensichtlich, dass ich total verweichlicht sei, ob ich denn schon mal was von Vitaminen gehört hätte und ich solle mir wie sie einen Personal Trainer nehmen.“

Solche Erlebnisse können schwer auf der Seele lasten. Diese Last ist nur leider nicht so offensichtlich wie das Gewicht an Bauch oder Hüften und erscheint nicht im Display einer Personenwage.

Bisher gibt es nur wenig Hilfe für Betroffene. Da unsere Recherchen auf lokaler Ebene ergebnislos blieben, haben wir bei der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung in Berlin nachgefragt. Der Verein fokussiert sich auf die Sensibilisierung für Weiterbildungsangebote und die politische Arbeit. Auch hier wird die Auffassung vertreten, dass hohes Gewicht ein zu akzeptierender Teil der menschlichen Vielfalt ist.

Wir erfuhren, dass sich Betroffene in erster Instanz an die jeweiligen Antidiskriminierungsstellen vor Ort wenden sollten. Allerdings sind diese Stellen nicht auf Gewichtsdiskriminierung spezialisiert, sondern beraten zu Diskriminierung in Bezug auf die sechs in §1 AGG formulierten Merkmale. Dazu zählen Rasse oder Ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter sowie sexuelle Identität. Von Körper oder Gewicht ist nicht die Rede, obwohl es sich ganz offensichtlich um Merkmale handelt, die als Anlass für Häme und Hass dienen. Da Gewichtsdiskriminierung jedoch intersektional gedacht werden muss, sie also nie ganz losgelöst von diesen Merkmalen auftritt, kann in besagten Anlaufstellen unter Umständen dennoch beraten bzw. geholfen werden.

Die beschriebene Hürde ist Grund für einen weiteren Arbeitsschwerpunkt der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Sie setzen sich für eine umfassende Erweiterung des ersten Paragraphen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ein. Als Teil des Bündnisses „AGGReform – Jetzt!“, fordern sie neben einigen anderen Kategorien die Aufnahme des Körpergewichts als Diskriminierungsmerkmal in den Paragraphen.

Bei Erfahrungen mit Gewichtsdiskriminierung im Gesundheitswesen empfiehlt sich zunächst eine Beschwerde bei der Ärztekammer. Hierbei kann außerdem die Unabhängige Patientenberatung behilflich sein. Selbstverständlich kann es nicht schaden, das direkte Gespräch zu suchen. In manchen Fällen ist dies aber nicht mehr zielführend oder aber der/die Patient:in schon zu sehr eingeschüchtert. Deshalb ist eine offizielle Beschwerde manchmal der bessere Schritt. Zweifelsohne kann hohes Gewicht zu körperlichen Beschwerden führen und es ist gut und richtig, wenn Ärzt:innen auf diese Risiken hinweisen. Es ist jedoch nicht hinnehmbar, dass sie Hilfesuchende lediglich auf ihr Gewicht reduzieren, dieses als Ursache für jegliche Symptome heranziehen und darüber hinaus beleidigend werden. Eine von vielen Folgen solchen Verhaltens kann nämlich sein, dass Menschen mit ihrer Krankheit zuhause bleiben, anstatt sich in die Praxis zu begeben, nur um nicht erneut Ziel etwaiger Attacken zu werden.

Mehrgewicht löst in den meisten Menschen (insbesondere in jenen mit medizinischem Background) automatisch eine Assoziation mit Adipositas und den damit einhergehenden Gebrechen aus. Das ist ein Grund dafür, dass Selbsthilfegruppen für mehrgewichtige Menschen beinahe ausschließlich an Gesundheitseinrichtungen gekoppelt sind und Gewicht nur als Krankheit zum Thema haben.

Fakt ist jedoch, dass es eine unüberschaubar große Zahl an mehrgewichtigen, dicken und fetten Menschen gibt, die sich bester Gesundheit erfreuen und sich selbst – ja, jedes einzelne Gramm von diesem Selbst – ungehindert und ganz unabhängig von anderen Meinungen selbst lieben wollen. Ihnen fehlt es an einem Ort, an dem sie sich über Diskriminierungserfahrungen austauschen können, ohne von ihrem Gegenüber als krank, unfähig oder wertlos verurteilt zu werden, einem Ort, an dem sie BodyPositivity leben können – in vollem Umfang.

Text: Luise Zenker

Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V. GgG e.V.
Turmstraße 81
10551 Berlin

Tel.: 0151 54769916
E-Mail: info@gewichtsdiskriminierung.de

Antidiskriminierungsstelle Sachsen-Anhalt
Agnetenstraße 14
39106 Magdeburg

Tel.: 0391 79293374
E-Mail: antidiskriminierungsstelle@haljw.de

Ärztekammer Sachsen-Anhalt
DoctorEisenbartRing 2
39120 Magdeburg

Tel.: 0391 60546
E-Mail: info@aeksa.de