Marie Zenker sitzt mitten auf dem Trainingsgelände, umzingelt von Fußballplätzen und dem Stadion des 1. FC Magdeburg, und erinnert sich an ihre aktive Zeit. Sie schaut sich um, gleicht das Gesehene mit ihren Erinnerungen ab. „Aber ich erkenn‘ hier nichts mehr“, sagt sie und lacht für einen Moment auf. Zu viel habe sich verändert. Stephanie Träbert, noch aktive Fußballerin, sitzt daneben und weiß genau, worüber Marie spricht, versucht mit ihr, Bilder von damals zu zeichnen. Anfang der Nullerjahre, als Marie (heute 39 Jahre) und Stephanie (heute 35 Jahre) für eine kurze Zeit zusammen im Trikot des Magdeburger FFC gespielt haben.
Ein fester Platz? Fehlanzeige.
Mehr oder weniger überall in der Stadt hätten sie früher trainiert, erzählt Marie. „Es gibt, glaube ich, keinen Sportplatz, den ich nicht kenne.“ Ein fester Platz für Fußballerinnen in der Stadt? Fehlanzeige. Das sieht heute freilich anders aus: Laut Angaben des FCM trainieren seit 2007 „ausgewählte Damen- und Mädchenmannschaften“ regelmäßig auf den Nebenplätzen der MDCC-Arena, wie die Jungs und Männer des FCM. Viermal pro Woche. So auch heute Abend – Stephanie trägt ein weißes Poloshirt, das Vereinswappen auf der Brust. Sie – abends zumeist Mittelfeldspielerin, tagsüber Grundschullehrerin – ist seit einem Jahr wieder für den MFFC am Ball. Schon zwischen 2010 und 2014 hat sie im Trikot dieses Clubs in der Zweiten Bundesliga gekickt. Der Früher-heute-Vergleich, den Stephanie wohl besser als jede andere beurteilen kann, fällt positiv aus. Sämtliche Trainingsmaterialien seien vor Ort verfügbar. Sie könnten selbst, je nach Wetter, entscheiden, ob sie auf Rasen- oder Kunstrasen trainieren möchten. Außerdem gibt es jeden Donnerstag Athletiktraining. Alles an einem Standort. „Das ist schon mega. Früher war es einfach nur anstrengend“, sagt Stephanie. Aber: Man habe es nicht anders gekannt.
Professionelle Strukturen vs. Ehrenamt
Die Mädchen und Frauen des MFFC trainieren also auf professioneller Infrastruktur. Die Bedingungen auf dem Rasen sind das eine auf dem Weg zum Profifußball. Profifußball übrigens in dem Sinne, dass man hauptberuflich Fußball spielt und darüber ein Einkommen bezieht. Das andere sind die Strukturen im Verein. Je nach Grad der Professionalisierung, wären das zum Beispiel spezialisiertes Personal im Trainerteam und der medizinischen Abteilung für Frauen- und Juniorinnenteams, eine Abteilung für Marketing, Sponsoring, Merchandising etc. Kleine Kostprobe aus dem Männerfußball von nebenan? Der FCM beschäftigt allein drei Mitarbeiter für die Medienarbeit. Beim MFFC macht das eine Person, ehrenamtlich. Der Cheftrainer der 1. Frauen ist neben seinem eigentlichen Job als Soldat zusätzlich sportlicher Leiter, laut Vereinswebsite auch Vizepräsident. Ansonsten im Trainerstab: zwei Co-Trainer:innen und ein Athletiktrainer. Auf die Trainingsbedingungen und Vereinsstrukturen angesprochen, gibt Stephanie zu, dass der Kontrast da ist. „Aber ich glaube, wir sehen das nicht so, weil wir so sehr verliebt sind in diesen Sport.“
Nur wenige Ausnahmen bei der Konkurrenz
Frauen-Vereine mit professionellen Strukturen in dieser Spielklasse sind eine absolute Ausnahme. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Männer- und Frauenfußball sind eklatant, bedenkt man, dass selbst viele Fußballerinnen aus der Bundesliga nicht einmal vom Sport allein leben können. Aber: Es gibt inzwischen Fortschritte, auch in der Regionalliga Nordost. Zwei Ligakonkurrenten aus Berlin, der FC Viktoria und der 1. FC Union Berlin, sind mit großen Ambitionen und einer Professionalitäts-Offensive in die Saison 2022/23 gestartet. Viktoria etwa hat die Frauenabteilung ausgegliedert, alle Spielerinnen in der Berufsgenossenschaft krankenversichert und zahlt jeder Spielerin ein Grundgehalt von 251 Euro. Der Verein beschäftigt im Übrigen drei Mitarbeiterinnen für die Medienarbeit: Union etwa hat eine DFB-Analystin als Cheftrainerin, beschäftigt ein hauptamtliches Trainerteam und hat alle Fußballerinnen mit einem Vertrag ausgestattet. Beide haben das Ziel, in dieser Saison aufzusteigen. Dit is mal ne Ansage. Zugegeben, beide Clubs profitieren von vorhandenen Strukturen aus dem Männerfußball. Und von Berlin als Standort per se, Stichwort: Sponsoren.
Aus ebenjenem Berlin ist Antonia Sarré vor rund anderthalb Jahren zum MFFC gekommen. Heute trägt sie, als hätten sie und Stephanie sich abgesprochen, ebenfalls das weiße MFFC-Polo. Antonia, 18 Jahre, ist Abwehrspielerin beim MFFC. Mit 17 ist sie nach Magdeburg ins Internat neben dem Sportgymnasium gezogen. Dort lebt sie mit knapp 200 anderen Sportler:innen – aus Handball, Leichtathletik, Schwimmen und weiteren Sportarten.
Die Jungs des FCM als Nachbarn
Auch die Jungs des FCM sehe Antonia häufig. Mal auf dem Flur, mal in der Küche, mal auf dem Trainingsgelände. Man kennt sich also, weiß, was auf deren Plätzen oder hinter den Türen vor sich geht. Im Grunde, sagt Antonia, seien die Mädchen ähnlich ausgestattet wie die Magdeburger Jungs. „Aber uns unterscheidet vielleicht, dass wir keine feste Kabine haben, wo wir unsere Sachen lagern und lassen können.“ Spätestens eine Stunde später, als ihr Team mit dem Training beginnt, zeigt sich, wovon sie spricht. Die Sporttaschen der MFFC-Spielerinnen liegen am Rande des Rasens, da die Kabinen für andere Mannschaften des FCM freigeräumt werden müssen. Bei den Jungs habe jeder seinen festen Platz – mit Foto, Nummer und bereit hängendem Trikot. Antonia betont nochmal, dass sie „ähnliche Verhältnisse“ haben und zufrieden seien. Trotzdem rutscht ihr am Ende des Satzes ein „eigentlich“ über die Lippen.
„Ja, dann geht’s natürlich auch irgendwann ums Geld.“ Die Jungs würden „schon in jungen Jahren viel Geld verdienen“. Auf Anfrage bestätigte der FCM, dass er „ausgewählten Spielern Förderverträge“ anbietet. Alle Zahlungen seien jedoch für die Kosten der Verpflegung und Unterbringung vorgesehen und der Verein unterliege dabei den Satzungen und Vorgaben des Deutschen Fußball Bundes (DFB) sowie des Regional- und Landesverbands. Gemäß diesen, so der FCM, seien die Abschlüsse solcher „Förderverträge“ erst ab der U16-Altersklasse erlaubt. Es gibt nach § 22 Artikel 7.1 der DFB-Spielordnung allerdings eine Ausnahme für Spieler, die bereits seit der U14 im Verein spielen: Mit solchen Talenten dürfen die Vereine bereits Verträge vereinbaren, sobald diese in die U15 wechseln. Unter gewissen Voraussetzungen können also auch schon 14-Jährige Geld mit dem Fußballspielen verdienen. In Magdeburg, meint Antonia, sei das zwar nicht so viel wie bei den großen Clubs. „Aber natürlich fühlt man sich da als Mädchen manchmal ein bisschen benachteiligt,“, sagt sie, bevor das nächste „aber“ folgt: „Aber, wie Stevie“, Stephanies mannschaftsinterner Spitzname, „schon sagt: Man kennt’s nicht anders. Man weiß letztendlich schon von klein auf, wofür man es macht.“ Nicht für Geld. Das spiele nun mal einfach keine Rolle im Mädchen- beziehungsweise Frauenfußball.
Rund 400 Euro pro Monat
Selbstverständlich spielt Geld dort sehr wohl eine Rolle, auch bei Antonia. Allerdings zumeist auf der Ausgabenseite. „Wir müssen monatlich einen Beitrag bezahlen, sowohl für das Internat an sich als auch für das Essen, das wir jeden Tag in der Mensa bekommen.“ Für das Zimmer sind das 110 Euro im Monat, für das Essen in der Mensa wiederum 9,75 Euro – pro Tag. Ergibt zusammen monatlich also rund 400 Euro. „Ich habe das Glück, dass ich aus einem Haushalt komme, der sich das leisten kann.“ Antonias Eltern zahlen. „Aber ich habe auch schon oft genug mitbekommen, dass große Talente, die eben nicht die Unterstützung aus dem Elternhaus hatten, den Schritt nicht machen konnten.“
Was Antonia an der Stelle nicht erwähnt, ist die Sporthilfe des LSB für Schüler:innen einkommensschwacher Eltern. Ein Rabatt von maximal 150 Euro im Monat, den zum Beispiel ein alleinerziehendes Elternteil für sein Kind erhält, wenn es weniger als 1.855 Euro im Monat verdient und das Kind den sogenannten „L-Status“ innehat: eine leistungssportliche Empfehlung durch einen Landesfachverband. Eltern, die ihre Kinder ohne eine solche Empfehlung aufs Sportgymnasium schicken, haben keinen Anspruch auf Sporthilfe. Nichtsdestotrotz, auch mit Sporthilfe-Rabatt: Monatliche Mehrkosten von 250 Euro pro Kind sind für etliche Eltern dennoch nicht zu stemmen. So gehen Talente verloren, die möglicherweise den Fußball vor Ort bereichern könnten; solche, die den Frauen- und Mädchen-Fußball-Standort Magdeburg und Sachsen-Anhalt attraktiver machen.
„Das war Jahrtausendwende, da gab’s ja nichts.“
Aus Sicht der damals 17-jährigen Marie war Magdeburg nicht attraktiv genug. Besser gesagt: aus Sicht ihrer Mutter. Marie wollte erst gar nicht weg. Ihre Mutter war es, die sie im Jahr 2000 davon überzeugte, nach Wolfsburg zu wechseln. Es sei schlichtweg eine andere Zeit gewesen. „Das war Jahrtausendwende, da gab’s ja nichts.“ Jede:r hier in Magdeburg, auch ihre Mutter, hatte Angst um den eigenen Job. Obendrein habe es an Ausbildungsplätzen gefehlt, größere Firmen seien erst später gekommen. „Und Wolfsburg hat VW dran, fertig. Und das hat die Trainerin dann meiner Mama erklärt.“ Sie war überzeugt. Erst wurde Marie, bis sie 18 Jahre wurde, als Praktikantin im Personalwesen angestellt, weil die Bewerbungsrunde für Auszubildende zum Zeitpunkt des Wechsels schon vorüber war. „Das war das erste Mal, dass ich Geld verdient habe fürs Fußballspielen.“ 375 Mark. „Das ist schon ziemlich cool.“ Danach arbeitete sie fünf Monate in der Produktion bei VW, bis ihre Ausbildung zur Werkzeugmechanikerin im darauffolgenden Jahr begann. Arbeitsumfang und -zeiten seien an den Sport angepasst worden.
Marie sei damals beileibe kein Einzelfall gewesen, erzählt sie. Fast alle großen Talente aus ihrer Mannschaft seien abgewandert. Die meisten zunächst zu Turbine Potsdam. Am Anfang sei Marie von ihren Mitspielerinnen aus der Landesauswahl noch für ihren Wechsel nach Wolfsburg belächelt worden, „am Ende waren fast alle dort.“ Sachsen-Anhalt habe dagegen keine Chance gehabt. Man habe hier, weil immer wieder Spielerinnen fehlten, nur schwer Mannschaften zusammenbekommen. Deshalb hätten sich Vereine zusammengeschlossen, was wiederum zu längeren Fahrtwegen geführt habe – ein zusätzliches Manko. Für Marie ist aber vor allem entscheidend, das ein Angebot fehlt: Was machen die Spielerinnen danach?“ Wenn man professionell Fußball spielen möchte, dann müsse das unbedingt geklärt sein. „Du brauchst einen Arbeitgeber, der dafür Verständnis hat, dass man ins Trainingslager fährt, dass man am Wochenende weg ist, dass man am Montag vielleicht mal später kommt, dass man mal früher gehen muss oder dass man hier und da mal einen Termin hat.“ Zu Maries aktiver Zeit war nichts davon gegeben in Magdeburg, wohl aber in Wolfsburg. Deshalb sei der MFFC nichts anderes als eine „Talentschmiede“ gewesen. Talente, geschmiedet für Vereine mit prall gefüllten Kassen und professionellerem Unterbau.
MFFC = Talentschmiede?
Auch heute noch? „Es ist so, wie Marie sagt.“, sagt Stephanie erst leise, schiebt jedoch sofort hinterher: „Ich denke aber, dass sich der Zeitraum ein bisschen verlängert hat. Wir bringen hier wirklich gute Talente hervor, sieht man ja auch an vielen und zahlreichen Beispielen.“ Stephanie, Antonia und Marie beginnen, prominente Spielerinnen mit MFFC-Vergangenheit aufzuzählen: Almuth Schult, Anne Bartke (aktuelle Vizepräsidentin des MFFC), Selina Cerci. „Letzten Endes: Wenn die Schule oder das Studium rum ist, dann springen sie ab“, sagt Stephanie. Wie Antonia nächstes Jahr, vermutlich. „Ich geh zur Polizei“, sagt sie, ohne zu zögern. Hamburg oder – zurück zu den Wurzeln – Berlin. „Mal schauen.“
Unter dem Dach des FCM?
Mal schauen, vielleicht, so viel Utopie sei hier erlaubt, werden in zehn Jahren mehr Magdeburger Fußballerinnen in der Stadt bleiben. Oder zumindest ernsthaft darüber nachdenken. Im Herbst, so berichtet die Volksstimme, werde sich der FCM – wie bereits vor der EM – mit dem MFFC zusammensetzen, um über einen Kooperationsvertrag zu sprechen. Das FCM-Präsidium sei sich demzufolge einig, dem Fußball der Frauen mittelfristig ein Zuhause geben zu wollen, schließlich werde der Druck, eine Frauenmannschaft zu stellen, früher oder später ohnehin von „oben“ kommen, also von Verbandsseite. Marie ist skeptisch, verweist darauf, dass bereits vor 20 Jahren Gespräche darüber gescheitert seien. Stephanie erzählt, dass das Thema auch in ihrer Kabine diskutiert wurde. „Ja, ich würde mir das sehr wünschen. Aber dennoch sollten die Strukturen des MFFC nicht vollkommen ausradiert werden“, findet sie. Also nicht alle Macht dem FCM, etwa bei Personalentscheidungen. „Ich wäre auch dafür“, sagt Antonia. Es stecke so viel Potenzial dahinter, wenn sie unterstützt würden. „Ich meine, wir waren ja schon mal in der 2. Bundesliga“, antwortet Stephanie. Ihr „Bomben-Trainer“ und ihre „super Spieler“ seien dann aber weggegangen. Das muss in Zukunft nicht die Regel bleiben, wenn es denn eine bessere Perspektive für Fußballerinnen vor Ort gibt. Wenn es denn eine Antwort auf die Frage nach dem Danach gibt.
Text: Lars Graue