Es ist später Vormittag und ruhig in der Wohnung von Familie Frotan. Wir sitzen uns im gemütlichen Wohnzimmer gegenüber, Soniya Frotan mit offenem Haar. Ich kenne Soniya nur mit Kopftuch, bin ihr aber bisher stets im öffentlichen Raum begegnet. Ihr Bekenntnis zum Tragen des Kopftuchs ist ein eher ungewöhnliches. Ich möchte sie bitten von dieser Entscheidung zu erzählen, bin aber gleichzeitig unsicher. Übertrete ich mit meiner Frage eine Grenze? Durch meine Sozialisation bin ich mit dem Thema nicht gut genug vertraut, habe Klischees im Kopf, weiß zu wenig, auch wenn ich oft für mich in Anspruch nehme, ‚schon Bescheid‘ zu wissen. Sie lächelt mich mit ihrer offenen und herzlichen Art an; dieses Lächeln ist mir schon ein wenig vertraut. Es hatte mich bei unserer ersten Begegnung sofort für sie eingenommen. Jetzt lächelt sie meine Zweifel weg. Ja, sie will gern etwas dazu erklären, sagt sie, möchte aber einiges aus ihrem Leben vorausschicken. Danach werde ihr Entschluss, Kopftuch zu tragen, sicher deutlicher.
Soniya Frotan ist 1978 in Kabul geboren und in einer großen Familie mit acht Geschwistern aufgewachsen. 1979 marschierten sowjetische Militäreinheiten in ihr Land ein. Wegen des Kriegsgeschehens flohen die Eltern mit ihren Kindern im Verlauf dieser Besatzungszeit nach Pakistan. Da war sie ein fünfjähriges Mädchen. Die Familie lebte sieben Jahre im Nachbarland. Sie wollten in der Nähe der Heimat bleiben, um rasch zurückkehren zu können, wenn sich die Situation entspannt. Soniya wuchs zu einem wissbegierigen Mädchen heran, wollte mit ihren Schwestern viel lernen, so auch die englische und deutsche Sprache. Das war für die Mädchen nicht einfach. Stets mussten sie in der Öffentlichkeit auf Anfeindungen und sogar Gewalt gefasst sein. Nicht immer hatte ihr Vater Zeit, sie unter seinem Schutz zum Unterricht zu bringen. Als die Familie endlich nach Kabul zurückkehren konnte, änderte sich diese Situation wenig. So beschlossen die Eltern, Soniya mit ihren älteren Schwestern nach Deutschland zu schicken. Die Kinder sollten eine gute Bildung erhalten und sich dafür nicht täglich Gefahren aussetzen müssen. Sie lebte bis 1997 in Deutschland, ging zur Schule, lernte die Sprache. Nach Beendigung der Schulzeit verließ sie das Land, ging in die USA und lebte bis 2011 in Virginia. Doch das war nicht das Ende ihrer Reise durch die Welt. 2011 zog es sie mit ihrem Mann und dem einjährigen Sohn zurück in die Heimat. Die junge Familie hoffte, dass die gemäßigte politische Entwicklung unter Präsident Hamid Karzai das Land weiter stabilisieren würde. Die Hoffnung erfüllte sich nicht und so entschieden sie, Kabul dauerhaft zu verlassen. Sie reisten 2012 erneut in Deutschland ein, in das Land, das Soniya Frotan nun eine zweite Heimat geworden ist.
Zwei ihrer Geschwister leben weiterhin in Afghanistan. Ihre inzwischen verstorbenen Eltern haben das Land nicht mehr verlassen. Ihr Vater, er hatte Jura studiert, war als juristischer Berater in einem Ministerium tätig, die Mutter sorgte für die Familie. Soniya sagt, dass sie trotz der Aufenthalte im Ausland stets eine gut behütete Kindheit und Jugend hatte.
Sie erzählt von einer Begebenheit, die sie fürs Leben prägte: „Ich war noch ein Kind, wir Geschwister saßen am großen Tisch, es war Mittag, und wir warteten auf das Essen. Meine Mutter kam herein und sagte, wir hätten alle gut gefrühstückt, deshalb bekämen wir etwas später unser Essen. Jetzt ständen viele Flüchtlinge vor der Tür. Diese hätten einen weiten Weg hinter sich und seien erschöpft und hungrig. Sie werden sich an diesen Tisch setzen und als erste zu essen bekommen.
Wir Kinder haben das zuerst nicht verstanden. Aber unsere Mutter blieb konsequent: Erst sollen die Menschen, die vor der Tür warten, zu essen bekommen.
Heute bin ich stolz darauf, was unsere Mutter uns damit vorgelebt hat. Es gab zahlreiche ähnliche Begebenheiten. Solidarische Hilfe für in Not Geratene war für uns selbstverständlich. Das beherzige ich in meinem Leben und denke, so die Prinzipien meiner Eltern auf meine Weise verwirklichen zu können.“
Soniyas Lächeln scheint jetzt nach innen zu gehen, in ihre Erinnerung an die Eltern, an die Familie, an die Heimat. Einmal im Jahr, sagt sie nach längerem Schweigen, müsse sie nach Hause, in das Land ihrer Geburt, zu den Geschwistern, zu Freunden. 2021 besuchte sie ihre Heimatstadt mit einem besonderen Anliegen: einem Projekt des Offenen Kanals Magdeburg. Sie drehte in Afghanistan einen Dokumentarfilm über die Situation der Frauen. Vier Frauen stellte sie beispielhaft darin vor: Eine Zahnärztin; eine Unternehmerin, die hausgemachtes eingelegtes Gemüse, Obst und Marmeladen – ganz umweltfreundlich in Gläsern – verkauft; eine Lehrerin und eine ältere Bäuerin, die ihr Feld bestellt wie eh und je. Der 30-minütige Film zeigt sehr eindrücklich, wie schwer das Leben als Frau in Afghanistan ist.
Die Lehrerin verlor ihre Arbeit, weil die Schule geschlossen wurde, die Unternehmerin erhielt keinen Zugang zu ihrem Konto und musste ihren Betrieb deshalb wegen Zahlungsunfähigkeit aufgeben, die Zahnärztin ist in etwas besserer Lage – sie kann weiterhin Frauen zahnärztlich behandeln – und die alte Bäuerin lebt, wie sie es immer getan hat und verrichtet ihre schwere körperliche Arbeit.
Gemeinsam mit Filmemacherin und Leiterin des Projekts, Victoria Lukina, hat sie den Film „FrauenStärken“ im Offenen Kanal produziert, so dass er 2022 im Moritzhof und an weiteren Orten gezeigt werden konnte. Die Schilderung der vier Frauen hat die Zuschauer:innen sehr berührt und eine lebhafte Diskussion in Gang gesetzt. Soniya Frotan hofft, irgendwann einen weiteren Film drehen zu können – darüber, wie sich das Leben der Frauen unter der Herrschaft der Taliban jetzt zeigt.
Über das filmische Dokumentieren hinaus leistet sie weiterhin – wie könnte es anders sein – aktive Hilfe. Im Dezember
2021 hat sie ein Spendenkonto eingerichtet, das maßgeblich von ihr und weiteren Spendern befüllt wird. Mit diesem Geld konnte eine kleine Schule gegründet werden. Das Gehalt der dort tätigen Lehrerin wird aus dem Spendentopf gezahlt. Anfangs kamen acht bis zehn Mädchen zum Unterricht. Inzwischen sind es 120 Mädchen, die Lesen, Schreiben und Rechnen lernen dürfen. Die Unternehmerin aus dem Film, erzählt Soniya Frotan weiter, hatte allen Lebensmut, alle Zuversicht verloren. Im Gespräch mit ihr sagte Soniya eindringlich: „Du lebst nicht nur für dich, du lebst für alle Frauen in deinem Umfeld. In Wahrheit bist du stark, das weiß ich. Gib ihnen ab von deiner Stärke, lebe auch für sie – und für die Kinder, die du in der neuen Schule unterrichten wirst.“ So kam es, dass diese Schule der Frau neuen Mut gab. Sie konnte ihre Verzweiflung hinter sich lassen, und mittlerweile werden die Kinder von einer weiteren Lehrerin und einem Lehrer unterrichtet.
Wer diese Schule in Afghanistan und die Bemühungen von Soniya Frotan unterstützen möchte, kann hier spenden: https://www.betterplace.org/de/projects/115849-maedchenschule-in-kabul
Als die Taliban nach dem Abzug der NATO-Truppen die Macht im Land Stück für Stück übernahmen, begann für Soniya eine schwierige, aber sehr intensive Zeit. Sie telefonierte fast nonstop aus Magdeburg mit Angehörigen und Freunden in Afghanistan, um etwas über die aktuelle Situation zu erfahren und um zu helfen, auch wenn es anfangs nur moralischer Zuspruch sein konnte. Für ihren Mann und ihre beiden Kinder war das nicht leicht, haben diese Kontakte doch sehr viel vom Zeitbudget der Familie verschlungen. Soniya aber ist überzeugt: Sie muss und wird weitermachen, weil sie in diesem Land tief verwurzelt ist. 70 Prozent der Afghaninnen, erklärt sie, sind nicht gebildet, viele von ihnen Analphabetinnen. Da muss angesetzt werden, ist sie überzeugt. Frauen brauchen
Zugang zur Bildung, so schwer das auch seit der Machtübernahme der Taliban geworden ist. Das alles kann Soniya Frotan nur leisten, weil sie inzwischen in Magdeburg ‚angekommen‘ ist. Hier hat sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern eine zweite Heimat und Freunde gefunden und es sind starke Wurzeln gewachsen, die sie mit dem Leben in der europäischen Kultur verbinden.
Sie selbst sieht sich als Weltbürgerin und sagt dazu: „Leben kann ich auf der ganzen Welt. Aber meine Heimat, das ist und bleibt Afghanistan.“
Aus dieser Haltung und der Sicherheit, hier in Magdeburg gut leben zu können, zieht sie die Kraft, sich für andere Menschen einzusetzen. Sie ist im Landesnetzwerk Migrantenorganisationen e.V. von Sachsen-Anhalt (LAMSA) tätig, arbeitet aktiv im Offenen Kanal und wurde 2020 als Engagementbotschafterin für Soziale Kultur des Landes berufen. Bei dieser Berufung habe ich sie kennengelernt.
Darüber hinaus betreibt sie das Interkulturelle Frauen-Netzwerk e.V. (IfNIS e.V.). Sie organisiert das Kennenlernen und Zusammenleben von Frauen aus Afghanistan, dem Iran und Syrien, gibt Sprachkurse, in denen die Frauen auch viel über das Leben in Deutschland und seine Regeln erfahren und hilft bei Behördengängen. Sie betont – und das ist ihr sehr wichtig – dass diese Frauen nicht nur Hilfe benötigen, sondern auch etwas zu geben haben. Sie können zum Beispiel gut nähen und sind überhaupt sehr geschickt in Handarbeiten. So lerne sie, Soniya, auch etwas von den Migrantinnen.
„Die Begegnung zwischen uns auf Augenhöhe bestärkt mich, immer weiter zu machen“, sagt Soniya und nickt dazu mehrmals bekräftigend. Nach all den beeindruckenden Geschichten erinnere ich an meine Frage vom Beginn unseres Gesprächs:
„Soniya, ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, die Leser:innen und mich an deiner Entscheidung für das Kopftuch teilhaben zu lassen?“ Sie nickt wieder und erzählt, nach passenden Worten suchend:
„Ich fühlte mich sowohl in Deutschland als auch später in den USA integriert, und war das nach außen wohl auch. Natürlich gab es Situationen, in denen ich von meiner Heimat erzählte. Ich wollte meine Freunde sehr gern teilhaben lassen an meiner Herkunft. Das klingt jetzt sicher ganz normal, aber irgendwie war es das für mich nicht. Ich erntete sehr oft großes Erstaunen mit Bemerkungen ‚wie ‚…das glaube ich jetzt nicht … du kannst doch nicht … du bist doch wie wir … wir können uns nicht vorstellen, dass du Muslimin bist… du siehst doch nicht aus wie sie…‘ .
So in der Art waren die Reaktionen. Das machte mich nachdenklich. Ich bin Muslimin, auch wenn ich nicht mehr in Afghanistan lebe. Wie kann ich solchem Erstaunen begegnen? Wie kann ich es vermeiden, immer wieder solche Fragen beantworten zu müssen?“
Nach einer nachdenklichen Pause sagt Soniya bestimmt: „Also war meine Antwort, ab jetzt Kopftuch zu tragen. Dann weiß jeder schon aufgrund meines Äußeren Bescheid, ich werde als Muslimin wahrgenommen und hoffe, auf diese Weise mit Menschen ins Gespräch zu kommen.“
Das leuchtet mir ein, auch wenn ihre Entscheidung so sicher selten anzutreffen ist. Seither denke ich immer wieder über das Gesagte nach. Soniya Frotan hat mich an dieser sehr persönlichen Entscheidung teilhaben lassen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Am Schluss unseres Gesprächs traue ich mich, eine sehr persönliche Frage zu stellen: „Soniya, verrätst du den Leser:innen – und ich gebe zu, meine Neugier ist ebenso groß – wie viele Kopftücher du im Schrank hast?“
Soniya lächelt, überlegt kurz und schätzt dann ihren Bestand auf mehr als 50. So viele, denke ich als erstes, aber dann … wenn ich nachzähle … Habe ich nicht ähnlich viele Tücher für Hals und Schultern im Schrank?
Text: Charlotte Buchholz, Autorin und Engagementbotschafterin für Literatur in Sachsen-Anhalt