„Ich dachte wirklich, jetzt rette ich die Welt“

Hauptkommissarin Grit Merker gibt einen Einblick in ihre Arbeit bei der Polizei Sachsen-Anhalt und spricht offen darüber, wo sie Potenzial für Verbesserungen sieht.

Wie bist du zur Polizei gekommen?

Mein Vater war Polizeibeamter, der Job lag deshalb für mich sehr nahe. Das war aber nicht der einzige Grund. Es war damals eine Zeit, so Mitte der 1990er, da war hier einfach sehr wenig möglich. Es gab kaum Perspektiven. Viele Menschen hatten ihre Arbeit verloren. Es gab einfach ein Überangebot an Arbeitskräften. Die Situation betraf auch meine Klassenstufe. Viele sind in den Öffentlichen Dienst gegangen, weil es dort die Chance auf einen Job gab. Ich selbst habe mit einem Abi-Schnitt von 1,8 über 50 Bewerbungen geschrieben und fast nur Ablehnungen bekommen. Dann hat mich die Polizei genommen.

Wie war die Ausbildungszeit für dich?

Ich fühlte mich ziemlich ausgegrenzt. Das erwischte mich kalt. Auch damals war ich mit einer Frau liiert, das wussten auch Leute in der näheren Umgebung. Aber ich habe mich nicht öffentlich als lesbisch geoutet. Es wurde auch nie darüber gesprochen. Als es nach der Ausbildung für mich zur Bereitschaftspolizei ging, wussten dort trotzdem schon einige, wie es um meine sexuelle Orientierung steht. Es war ganz seltsam. Heute denke ich, dass ich mich vermutlich auch seltsam verhalten haben muss, weil ich versucht habe Dinge zu verstecken und nicht offen war. Ich habe zum Beispiel Leute nicht korrigiert, die von meinem Partner sprachen, der zu Hause auf mich wartet. Die müssen mich für total komisch gehalten haben.

Warum hast du die Ausbildung trotzdem durchgezogen?

Es war streckenweise sehr schwer und ich habe schon auch mal mit dem Gedanken gespielt, zu kündigen. Aber andererseits wollte ich Polizistin werden und hab auch nicht eingesehen, wegen anderen aufzugeben. Was wäre auch die Perspektive gewesen? Ursprünglich wollte ich direkt im gehobenen Dienst anfangen, das ging aber nicht. Nach meiner ersten Phase in der Landesbereitschaftspolizei habe ich deshalb ein Studium begonnen, um intern aufzusteigen. Nebeneffekt war, aus der Bereitschaftspolizei rauszukommen. Das Klima war dort nicht so offen, wie ich es damals gebraucht hätte. Die Umstände haben nicht dazu beigetragen, nach außen selbstsicherer mit der eigenen sexuellen Orientierung umgehen zu können. Durch das Studium habe ich dann jemanden getroffen, der zehn Jahre älter ist als ich und überhaupt keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er schwul ist. Das war quasi Freundschaft vom ersten Tag an. Ich hatte jemanden an dem ich mich orientieren konnte. Es hat mir Selbstsicherheit gegeben, dass da jemand war, der ohne Zweifel zu sich selbst stehen konnte. Das brauchte ich dringend. Denn es hat mich bis dahin viele Jahre beschäftigt, herauszufinden, wie ich es schaffe in der Öffentlichkeit ich selbst zu sein.

In welchem Umfeld bist du aufgewachsen? Gab es keine Vorbilder?

Ich komme aus einer sehr kleinen Stadt. Da gab es für mich wenige Vorbilder, nur ein etwas älteres schwules Paar. An diesem spaltete sich die Stadt. Die einen gingen damit konform und die anderen fanden sie widerlich. Das hat mich geprägt. Ich dachte nur: ‚Oje, wie soll ich denn jemals sagen, dass ich lesbisch bin?‘ Ich dachte, dass das immer ein Problem darstellen würde.

Du hast dich dann bei der Polizei als Ansprechperson für gleichgeschlechtliche Lebensweisen (AGL) engagiert?

Ja, das begann 2008. Für mich war das ein wirklicher Lichtblick. Nebenamtliche AGL gibt es heute noch immer. Demensprechend kann leider aber auch nicht das Leistungspensum abgerufen werden, wie es im Hauptamt möglich wäre. Die zeitlichen Ressourcen sind knapp. Momentan gibt es sechs AGLs in ganz Sachsen-Anhalt.

Am 1. September 2020 konntest du deine jetzige Stelle besetzen. Eine Stelle, die es so vorher nicht gab.

Ja, ich bin erste hauptamtliche Ansprechperson für die Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern, Transidenten und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTTI) in Sachsen-Anhalt. Seit der Implementierung des Hauptamtes haben wir einen Sprung gemacht. Ich bin fest in der Aus- und Fortbildung verankert und stelle Führungskräften meine Tätigkeit vor. Innerhalb der Polizei kennen mich ziemlich viele. Gut ist auch, dass die Leute sich mit der Thematik LSBTI beschäftigen müssen, einfach schon, indem ich um die Freigabe einer Broschüre bitte oder eine E-Mail sende. Es ist einfach so, dass 7,5 Prozent der Bevölkerung LSBTI sind und die Polizeibeamt:innen müssen wissen, dass sie über kurz oder lang diese Menschen antreffen werden. Dazu kommt das Thema Hasskriminalität. Straftaten, die sich u. a. gegen die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität einer Person richten, werden darunter erfasst. Leider ordnen die Kolleg:innen das teils falsch ein. Ich werde aber nicht müde, auf die richtige Einordnung hinzuweisen. Es ist wichtig, das richtig zu benennen, um einen Überblick über die realen Fälle zu erhalten.

Mit welchen Gedanken bist du Polizistin geworden? Was wolltest du erreichen?

Das war schon wildromantisch. Ich dachte wirklich, jetzt rette ich die Leute und die Welt und ich will was für die Menschen tun. Ich wollte Sicherheit vermitteln und Ordnung herstellen. Alles was man in dieser Naivität so denkt. Jetzt mache ich etwas sehr Individuelles. Ich gebe Einzelpersonen ein Stück Sicherheit und lasse ihnen Unterstützung zu Teil werden. Es ist ein Agieren im Kleinen. Es ist ein Anfang, aber der muss ja auch gemacht werden.

Welche Erfahrungen hast du bisher im Rahmen der neuen Stelle gemacht?

Es dauert oft sehr lange, Dinge in die Umsetzung zu kriegen. Ich mache beispielsweise einen Flyer, der wird aber nicht direkt gedruckt. Er muss durch viele Hände gehen, dabei wird einiges geändert oder es gibt sogar eine Diskussion, ob bestimmte Teile des Flyers überhaupt nötig sind. Es ist manchmal frustrierend, aber man gewöhnt sich daran. Ich habe das Talent, mich zunächst innerlich fürchterlich darüber aufzuregen, aber dann ziehe ich die Energie aus anderen Dingen. Ich habe Leute am Telefon, die Hilfe brauchen, begleite sie zur Anzeigenerstattung oder berate. Die Menschen sind so dankbar dafür. Von innen, also von meinen Kolleg:innen, kommen leider noch sehr wenige Anfragen. Ich kann mir vorstellen, dass viele sich unsicher sind, ob ich nicht vielleicht doch verpflichtet bin, zu berichten. Dass es aber Ansprechpersonen braucht, zeigt dieser Vorfall: Letzte Woche kam ein Kollege aufgeregt zu mir ins Büro gelaufen mit der Aussage: „Stell dir mal vor. Ich hatte gerade Kontakt zu einem ehemaligen Kommilitonen. Er ist seit fünf Jahren bei der Polizei und hat sich erst jetzt geoutet. Wie kann das denn heute noch sein?“

Und wie kann das heute noch sein?

Sie befürchten, dass sie dann Spießrouten laufen, nicht befördert werden und  keine Karriere machen können. Gruppendynamische Prozesse spielen ebenfalls eine große Rolle und damit die Angst, ausgegrenzt, gemobbt oder diskriminiert zu werden, was ich sehr gut verstehen kann. Es braucht ein gutes Selbstbewusstsein, um da drüberzustehen.

Wie offen ist die Polizei dazuzulernen? Welche Erfahrungen hast du gemacht?

Die Polizei Sachsen-Anhalt hat als Apparat schon den Willen, sich zu verändern und ruft immer mehr Schulungen ins Leben. So nimmt der Sektor Interkulturelle Kompetenz Fahrt auf. Darin ist auch Opferschutz etc. enthalten, aber es könnte alles noch schneller passieren und ich wünsche mir, dass auch LSBTTI mehr vertreten ist. Das halte ich für sehr richtig und gut. Dabei müssten wir auch über Diskriminierungserfahrungen sprechen. Es gibt Menschen in der Polizei, die sehen Diskriminierung und Phänomene wie Alltagssexismus mit großer Sorge. Es gibt auch welche, die von sich heraus aktiv werden und in ihrer Freizeit Inhalte konzipieren, um bspw. die Sprache der Kolleg:innen zu sensibilisieren. Jüngere Menschen, die zur Polizei kommen, sind tendenziell etwas offener. Der Widerspruch, in Bezug auf meine Arbeit, ist eher bei ab 40-Jährigen sehr ausgeprägt. In Diskussionen bekomme ich da durchaus viel Gegenwind. Das geht von Negierungen bis hin zu der vereinzelten Aussage, dass es meinen Dienstposten überhaupt nicht braucht. Letzteres sagt mir wiederum aber niemand ins Gesicht, das höre ich nur von anderen.

Was würdest du gern verbessern wollen, wenn es um deinen Job geht?

Es ist manchmal sehr schwierig, bei diesem Thema mit vielen Akteur:innen in den Hierarchien zu agieren. Das ist alles sehr aufwendig und mühsam und geht über viele Hürden. Für das AGL-Netzwerk wünsche ich mir verbindliche Arbeitszeiten, um Raum zu haben, etwas voranbringen zu können. Ich als Einzelperson kann das nicht alles alleine machen, das ist glaube ich auch nicht zielführend. Ich bräuchte Leute, die an allen Orten regelmäßig präsent mit dem Thema sind und dort auch die Schulungen durchführen. Ich denke, eine Art Diversity Management wäre gut, damit die Menschen erkennen, dass Vielfalt eine Bereicherung sein kann und Ressourcen beinhaltet. Menschen sind einfach glücklicher auf Arbeit, wenn sie so angenommen werden, wie sie sind und nicht ihre Lebenskraft dafür aufwenden müssen eine Scheinexistenz zu bewahren. Und wir sollten bewusster machen, dass Diskriminierung auch auf Seiten der Polizei stattfindet und dass sie mehr reflektiert werden muss. Die Polizei sollte noch mehr in Richtung Servicegedanke gehen und den Umgang mit jenen verbessern, die vor allem ihren Schutz brauchen, z. B. Opfer von Gewalttaten. An wen sollen sie sich noch wenden, wenn sie das Gefühl haben, sich von der Polizei nicht angenommen zu fühlen? Wahrscheinlich müssen wir noch etwas zulegen im Bereich Kommunikation, im Umgang mit den Menschen und in der Akzeptanz, Leute so zu nehmen, wie sie sind. Dazu gehört für mich auch, Interesse zu zeigen, sich Wissensdefizite einzugestehen, beispielsweise im Bereich trans, und dann dazu zu lernen.