Ich fühle mich wie ein dressiertes Zirkuspferd

Sandra B. hat seit ihrer Kindheit mit psychischen Problemen zu kämpfen und wurde schon vor eine Vielzahl von Diagnosen gestellt. Ein chronisches Gefühl von Leere, Suizidgedanken und Selbstzweifel sind Teil ihrer inneren Welt.

Nach außen hin wirkt Sandra B. lebenslustig und ist in ihrer Freizeit viel mit Freunden unterwegs, spielt Theater, interessiert sich für Literatur und hat einen internationalen Freundeskreis. Doch in ihrem Inneren spielt sich das komplette Gegenteil ihrer äußeren Darstellung ab. In ihr herrscht ein chronisches Gefühl von Leere. Suizidgedanken und Selbstzweifel sind Teil ihrer inneren Welt. „Ich war schon mit acht Jahren das erste Mal an dem Punkt, dass ich nicht mehr leben wollte. Ich kann mich im Grunde nicht daran erinnern, jemals eine lebensbejahende Haltung gehabt zu haben.“, sagt Sandra.

Von ihren Gefühlen hat sich Sandra teils abgespalten. Was erklärt, warum sie bei all dem, was sie mir über sich erzählt, relativ emotionslos reagiert. Mehr noch, sie macht einen regelrecht fröhlichen Eindruck. „Schon in der Kindheit habe ich viel gegrübelt und analysiert und nach außen hin habe ich funktioniert und die Klappe gehalten.“, erinnert sich die 44-Jährige. In ihrer Familie gab es für sie kaum die Möglichkeit, über ihre Gefühle zu sprechen. Es war für sie ein Umfeld, in dem ihr wenig Wertschätzung entgegengebracht wurde. Nach dem Abi entscheidet sich Sandra für eine Ausbildung als Konditorin. In der Zeit geht es ihr so schlecht, dass sie die Ausbildung abbricht und sich das erste Mal in eine Klinik begibt. Die Diagnose lautet: Es liegt eine psychische Minderbelastbarkeit vor. Eine Erwerbsminderungsrente wird empfohlen. Die damals 20-Jährige verlässt die Klinik, vergräbt ihre aufgewühlten Gefühle wieder in ihrem Inneren und fängt an zu „funktionieren“. Das Funktionieren ist ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. „Ich fühle mich wie ein dressiertes Zirkuspferd. Wo es nur darum geht, wie ich mich nach außen hingeben muss, um gut klar zu kommen.“, beschreibt es Sandra.

Ein Kreislauf entsteht. Sandra rappelt sich auf, probiert ein neues Studium und eine Ausbildung aus, bricht zusammen und richtet sich wieder auf. Sie hat nahezu schon alle Diagnosen bekommen, sagt sie, darunter: Angststörung, Depressionen und Posttraumatische Belastungsstörung. Sehr häufig kommt ihr im Leben der Gedanke, sich das Leben zu nehmen, weil ihr alles sinnlos erscheint. „Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mich schon umbringen wollte oder es auch versucht habe. So oft habe ich mir schon Tabletten gekauft.“, gibt sie offen zu. Auch nach im Ausland angebotener Sterbehilfe hat sie sich erkundigt. Als wir hier zusammen bei einer Tasse Tee auf der Couch sitzen und erzählen, ist der letzte Klinikaufenthalt von Sandra noch nicht lange her. Es geht ihr etwas besser, sie nimmt Medikamente und meditiert morgens regelmäßig, u. a. für eine bessere Selbstwahrnehmung und gegen die Grübeleien. Eine neue Diagnose gibt es auch, sie lautet Borderline. Eine Persönlichkeitsstörung, die vor allem mit jungen Emo-Mädchen, die ihre Haut aufritzen, verknüpft ist. Doch das passt gar nicht zu Sandra, weshalb sie sich mit diesem Bild zunächst auch nicht identifizieren konnte. Doch das Symptombild für Borderline-Erkrankung ist nicht klar abzugrenzen, da es sehr unterschiedliche Ausprägungen gibt. Dieses Problem betrifft psychische Diagnosen im Allgemeinen. Es wird immer wieder festgestellt, das Patient:innen sich nur schwer in eine bestimmte Schublade pressen lassen, so dass der Wert von Diagnosen zunehmend an Bedeutung verliert.

Die Borderline-Störung wird, wie bereits oben genannt, häufig mit Frauen in Verbindung gebracht. Der Anteil Betroffener ist in Wirklichkeit in der Gesellschaft aber gleich verteilt und macht ungefähr drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Tendenziell neigen Frauen allerdings eher dazu, sich selbst zu verletzten, während Männer eher dazu neigen, andere zu verletzten und deshalb häufiger in einem Gefängnis, als in einer Klinik landen.

Ein typisches Anzeichen für eine Borderlein-Störung ist eine dauerhafte hohe innere Anspannung, was eine sieben bis neunfach stärkere Emotionalität und Empfindsamkeit bedeutet. Darunter leidet auch Sandra. „Es fühlt sich an, als würde ich kurz vor einer Prüfung stehen, nur dauerhaft und schlimmer. Es drückt auf der Brust, ich bin nervös und habe Herzrasen.“, erzählt Sandra. Diese Anspannung wirkt sich auf den gesamten Körper aus. Sie bekommt Kopfschmerzen, die monatelang anhalten oder Rücken-, Gelenk- und Nackenschmerzen, aber auch Magenbeschwerden. Aus diesem Schmerz heraus entwickelt sich bei manchen Betroffenen die Angewohnheit, die eigene Haut aufzuschneiden. Die Selbstverletzung wird als Befreiung und Ablenkung vom inneren Schmerz erfahren. Es gibt aber auch andere Formen der Betäubung. Bei Sandra ist es das Essen, was bei ihr zu Adipositas geführt hat. Das Essen war in ihrer Familie schon immer eine Form der Kompensation bei Streitigkeiten, aber auch ein Mittel, um zum Beispiel Freunde in der Schule zu gewinnen. So ist es schwer, diese Sucht zu bekämpfen. Nicht nur weil ihr jegliches Hungergefühl fehlt, sondern auch, weil man Lebensmittel nicht komplett aus seinem Leben verbannen kann. Die Gefahr der Sucht wieder zu erliegen, ist deshalb groß.

Borderline-Patient:innen haben häufig auch mit einem ausgeprägten Schwarz-Weiß-Denken zu kämpfen. So idealisieren Personen in ihrer Umgebung zunächst, um sie dann bei der kleinsten Enttäuschung extrem abzuwerten. Sandra wertet auch sich selbst ab und fühlt sich dadurch in ihrem Leben stets mit Problemen konfrontiert. Ein Beispiel: Ihr Router funktioniert aus unerfindlichen Gründen nicht. Dann denkt sie nicht direkt daran die Telekommunikationsfirma anzurufen und um Hilfe zu bitten. Sie begibt sich zunächst in eine Spirale von Gedanken in der sie sich selbst abwertet und für nutzlos deklariert. Sich da wieder rauszubewegen kostet sie sehr viel Kraft. So bewegt sie sich gefühlt von einer Krise zur nächsten. Einen Zustand dazwischen gibt es für sie nicht. Doch gerade hat Sandra das Gefühl, ihren Blick auf die Situation ändern zu können. Neben einer ambulanten Einzeltherapie besucht sie auch Gruppentherapien, in denen sie lernt, besser mit ihren Emotionen umzugehen. Auslöser für diesen Aufschwung war der Satz einer Therapeutin beim letzten Klinikaufenthalt, der ihr bewusst gemacht hat, dass sie mit dem Glaubenssatz lebt: Es wäre für alle besser, wenn ich gar nicht leben würden. Das hat etwas in Sandra bewegt. Sie gibt sich kämpferisch: „Ich muss von diesem Satz weg, Ich will nicht mehr zurückblicken und mich stattdessen auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren. Ich lebe. Punkt.“