Hier bin ich Chefin

Lisa übernahm als Cheftrainerin für eine Saison die 1. Handball-Männermannschaft des BSV 93 Magdeburg-Olvenstedt. Im Sport sind Frauen auf diesen Positionen bisher rar gesät. Ein Besuch bei ihrer ehemaligen Mannschaft.

In der Kabine herrscht Stille, die Ansprache beginnt. „Gut, Männer“, die Stimme zunächst leise. Erst Sekunden später, nach einer Atempause, legt Trainer Mark Illig richtig los. „Die kommen hier in unseren Wolfsbau und wollen uns das Wichtigste wegnehmen.“ Die Handballer des BSV 93 Magdeburg-Olvenstedt, intern sprechen sie von einem Wolfsrudel, hören ihrem Coach aufmerksam zu. Mit tosendem Gebrüll und Geklatsche marschiert das Team am Ende aufs Spielfeld. Die auserkorene Beute an diesem Abend: die HSG Börde.

In der vergangenen Saison war es noch eine andere Person, die das – zu dieser Zeit noch nicht so genannte – „Wolfsrudel“ eingeschworen hatte. Sie gehört auf diesem Terrain zu einer Minderheit, deren Population möglicherweise in Zukunft noch wachsen wird, wie die des Wolfes. Es handelt sich um: eine Frau. Lisa Schaake, inzwischen 26 und hauptberuflich Athletiktrainerin von Fußball-Regionalligaklub Fortuna Köln, hatte die „1. Männer“ des BSV in der früh abgebrochenen Saison trainiert. Gefragt wurde sie im Sommer 2020 von Tim Liebe (Vorstandsmitglied) sowie Jens Ziegler (sportlicher Leiter), ob sie sich das vorstellen könne. Konnte sie. Zur Wahrheit gehöre indes auch, dass der BSV damals „keine große Auswahl“ hatte, weil „nicht viele dazu bereit waren, das zu machen“, berichtet Lisa. Nach einer Spielzeit als Trainerin der ersten Damenmannschaft ging es zu den Herren in die Verbandsliga Nord.

Ein mulmiges Gefühl, Bedenken oder gar Angst, dass sie nicht akzeptiert wird, weil sie eine Frau ist. All das habe Lisa vor der Übernahme der Mannschaft nicht wirklich empfunden. Obwohl sie von vielen Leuten danach gefragt wurde, erzählt sie rückblickend. Auch thematisiert habe sie ihr Geschlecht nicht. „Weil ich immer der Meinung bin, man qualifiziert sich für den Beruf oder die Rolle durch seine Kompetenzen.“ Natürlich habe sie Bedenken „im Bereich des Handballerischen“ gehabt. Schließlich hatte sie bis dato noch nicht so viel Erfahrung als Trainerin gesammelt, genauer gesagt: eine Saison.

Das Spiel naht in der Halle am Florapark. Der Großteil der Zuschauer:innen sitzt auf den Turnbänken am Spielfeldrand. „Mir fallen gleich die Ohren ab. Lasst uns an die Seite gehen“, meint Eirik (20) mit Händen über seinen Ohren. Er deutet auf die Trommel, die am Rande der überschaubaren Menschenmenge geschlagen wird. Eirik ist Spieler beim BSV und aktuell verletzt – wie auch Lennard (20) und Tom (21) kann er heute deshalb nicht auflaufen. Ihre Mannschaft steht ein letztes Mal vor Anpfiff im Kreis zusammen und schwört sich ein. Danach reihen sich die Spieler nebeneinander auf – Blickrichtung zum Publikum – und fangen an, energisch zu klatschen. Das Publikum steigt mit ein, ohne zu zögern. Offenbar weiß es, wie der Hase – pardon, der Wolf – in dieser Halle läuft. Das, erzählt Eirik, sei so ein Ritual. Nach einigen Sekunden lächelt er und sagt: „Bisschen Eindruck machen auf den Gegner“. Dann ertönt der Pfiff. Das Spiel läuft. Fast die gesamte erste Halbzeit zeigt sich BSV-Trainer Illig unzufrieden, immer wieder winkt er ab. Schon früh im Spiel versammelt er sein Team zur Auszeit, obwohl es führt. Kurz vor der Pause, immer noch mit 17:13 in Führung, wendet er seinen Blick vom Spielgeschehen ab. Er schaut auf sein verletztes Personal. „Die stehen hintereinander in der Abwehr. Was fürn Quatsch!“, zischt Illig, als wolle er eine Antwort hören. Ohne diese dreht er sich wieder um und verfolgt weiter das Spiel.

Als Eirik von Lisa als neuer Trainerin Wind bekam, „konnte ich weder sagen gut noch schlecht. Ich kannte sie ja nicht.“ Innerhalb der Mannschaft sei Lisas Geschlecht schon ein Thema gewesen, berichtet er. „Wahrscheinlich war die Mehrheit bisschen skeptisch. Wir alle hatten noch nie eine Trainerin, da ist man“, seine Worte werden langsamer, „so ein bisschen gespannt.“ Insgesamt sei es „natürlich auch nicht einfach, als Gleichaltrige eine Männermannschaft zu coachen.“

Eine Frau auf der Trainerbank, das sei für Lennard ein „bisschen ungewohnt“ gewesen, erinnert auch er sich während des Spiels zurück. Probleme, sich in der Mannschaft durchzusetzen, habe Lisa derweil nicht gehabt. Besonders „vom Athletischen und von der Fitness her war das Training 1A“, sagt Lennard. „Allerdings bin ich handballerisch nicht besser geworden und wollte mehr lernen“, bilanziert er mit stoischer Mimik. Eine Saison zuvor, betont er, habe er beim BSV noch in der A-Jugend-Bundesliga gespielt. Seine Erwartungen waren entsprechend hoch. Dennoch: „Zwischenmenschlich war alles vollkommen okay“. Auch Tom hatte in der Vorsaison in derselben Mannschaft wie Lennard gespielt. Sein Eindruck war ähnlich: „Vom Niveau her war es schon ein klarer Unterschied.“ Als Tom von der neuen Trainerin erfahren hat, sei das für ihn aber „‘ne normale Sache“ gewesen. „Frauen können auch Ahnung von Sport haben, aber man denkt halt nicht sofort an ‘ne Trainerin“.

Genau das bekam Lisa zu spüren. Nicht etwa von der eigenen Mannschaft, sondern den Trainern ihrer Gegner. „Es kam zwei, drei Mal vor, dass ein Trainer mich nicht begrüßt hat, sondern dass der zu dem Physio gegangen ist und den begrüßt hat, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ich die Trainerin bin“, erzählt sie. „Dann musste ich nochmal sagen: ‚Hier, ich bin die Chefin!‘“ Natürlich habe sie das in dem Moment ein wenig getroffen. Allerdings habe Lisa das später in positiven Trotz ummünzen können. „Mir tut es dann in der Situation eher leid für die Person, dass sie – in dem Fall – sehr kleingeistig ist und meint, sie ist was Besseres, nur weil sie männlich ist.“ Zu spüren, dass sie für den Trainerposten offenbar nicht die 1A-Lösung gewesen ist, bekam Lisa auch bei ihren Verhandlungen. Eine hohe Bezahlung können Trainer:innen im Breitensport ohnehin nicht erwarten. „Man bekommt natürlich eine Aufwandsentschädigung, aber es ist jetzt kein Gehalt“, erklärt Lisa. Sie jedoch habe – sowohl beim BSV als auch bei anderen Vereinen – sehr stark um einen angemessenen Betrag feilschen müssen. „Gut, du bist noch eine junge Trainerin, du hast noch nicht so viel Erfahrung und du bist eine Frau. Dann ist natürlich die Frage: Was zahlt man so einem kleinen Mädchen, in Anführungsstrichen?“ Tatsächlich lag ihr Honorar beim BSV rund 40 Prozent unter dem, was ihrem Nachfolger gezahlt wird. „So ein Trainer, der die erste Männermannschaft trainiert, sollte eigentlich der bestbezahlte Trainer in dem Verein sein“, so Lisa.

Meistens sind es freilich Männer, die am Ende auf der Trainerbank landen. Die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht, sie scheint fast schon ein Kriterium dafür zu sein, um – insbesondere in Ballsportarten – eine Mannschaft zu trainieren. Für den Breitensport gibt es keine zusammengefassten Daten darüber, wie sich die Geschlechtersituation hier darstellt. Laut Sportentwicklungsbericht 2017/18 sind im Fußball nur 8,5 % der ehrenamtlichen Trainer:innen weiblich. Und im professionellen Sport? Wer im Fußball und Handball jeweils die Männer-Bundesliga betrachtet, erkennt bei den insgesamt 36 Teams 36 Männer an der Seitenlinie. Wenn man auf die Frauen-Bundesliga der beiden beliebtesten Ballsportarten Deutschlands blickt, fällt zunächst auf, dass mit 26 deutlich weniger Vereine überhaupt am Spielbetrieb teilnehmen. Bei diesen Frauenmannschaften steht das Verhältnis 20 zu 6. Die Zahl 20 meint jedoch nicht etwa 20 Frauen; es sind 20 Männer, die die Handballerinnen und Fußballerinnen trainieren. In der Frauen-Fußball-Bundesliga sind 11 von 12 Trainerposten männlich besetzt, beim Handball 9 von 14. Die Zahlen in den Handball- und Fußball-Bundesligen der Frauen und Männer sprechen eine deutliche Sprache: 90,3 % männliche Dominanz.

Apropos Dominanz. Die lässt der BSV am heutigen Tag vermissen – zumindest nach Geschmack des Trainers. Trotz 19:15-Führung ist Illig in der Halbzeit alles andere als zufrieden. Schließlich hat sein Team bis dato jedes seiner sechs Ligaspiele gewonnen, die Gegner lediglich eines davon. Auch nach der Halbzeitpause scheint Illig die Darbietung seiner Mannschaft nicht zu gefallen. Der BSV pendelt zwischen einer 3- und 8-Tore-Führung durch die zweite Spielhälfte – am Ende gewinnen die Olvenstedter ungefährdet 36:31.

Einige Minuten nach Abpfiff dröhnen bereits die ersten Bässe aus der Kabine. Überall liegen Schuhe und Taschen herum, mittendrin steht ein Bierkasten. In Windeseile finden die Flaschen ihren Weg in die Hände der Handballer. „Hach, der schöne Geruch von Schweiß und Bier“, sagt jemand zwischen Tür und Angel, dessen Grinsen man heraushört.

Nachdem die meisten geduscht haben, atmen sie vor dem Halleneingang die inzwischen fast-winterliche Frisch- statt Kabinenluft. Jan (24) sitzt noch in der Kabine, seine rötlichen Locken verschwitzt. Auch er erinnert sich daran, als er von Lisa als neuer Trainerin erfahren hat: „Das war erst mal natürlich was Neues, ‘ne Frau in der Sportwelt einer Männermannschaft“, sagt er. Dass das Trainer:innenamt jetzt eine Frau bekleidet, sei zu Beginn durchaus Thema innerhalb des Teams gewesen. „Wenn Jungs unter Jungs sind, blödeln wir schon mal rum“, gibt Jan rot werdend, dezent grinsend zu. Stephan (20), gerade auf dem Weg zu den Kollegen nach draußen, widerspricht dem nicht. „Die ein, zwei Frauenwitze macht man mal. Aber das ist rein freundschaftlich gemeint“, sagt er. Eines seiner Augen schielt dabei bereits auf die versammelten Mitspieler vor der Eingangstür.

Unter ihnen steht auch John (36), der Älteste der Mannschaft. In der einen Hand hält er eine Zigarette, in der anderen eine Flasche Bier. Dort stand er auch vor dem Spiel, nur mit Kaffee statt Bier. „Gut“ fand er es, dass Lisa Trainerin wurde, er habe sie schließlich von den Damen gekannt. „Jeder hat seine Chance verdient, jeder muss ja mal anfangen“, meinte John am Nachmittag. Zwar sei sie nicht so erfahren gewesen. „Lisa hat das aber mit ihrer Präsenz, sag‘ ich mal, gut wettgemacht. Beim Bankdrücken macht die wohl mehr als die Hälfte der Mannschaft“, sagte er schmunzelnd. Es habe sich aber insgesamt schon anders angefühlt mit einer Trainerin: „Mit Frauen geht man dann doch respektvoller um als mit Männern. Ich meine, jeder sucht eine Freundin. Man ist also bedachter.“

„Die Mannschaft hat mich richtig toll aufgenommen“, betont Lisa selbst; auch ihr damaliger Co-Trainer Jörg Darius, der die Rolle auch unter Illig übernimmt, attestiert seinen Spielern Offenheit. Zwar schienen einige inhaltlich nur bedingt einverstanden mit ihren Anweisungen gewesen zu sein – womöglich auch der mangelnden Erfahrung wegen. Allerdings hat ihr Team sie – im Gegensatz zu gegnerischen Trainerkollegen – sehr wohl anerkannt. Obwohl die Anfrage an Lisa nur kam, das darf man nicht unter den Teppich kehren, weil sonst keiner wollte. Das wird es im Profisport angesichts der teilweise exorbitant hohen Gehälter für Trainer:innen wohl nicht geben.

Deshalb bringt es nichts, nur auf den Profisport zu schauen und zu warten, bis diese ein wenig Mut zeigen und ihrer Vorbildrolle gerecht werden. Auch an der sogenannten Basis können sich Einstellungen verändern – was nicht bedeutet, dass es keinen Gegenwind für nicht-männliche Interessent:innen an Trainerjobs gäbe. Lisa jedenfalls hat, obwohl nun in Köln, noch nicht mit dem Thema Handballtrainerin abgeschlossen. „Ich habe auf jeden Fall Lust und will auch gerne die B-Lizenz machen. Deswegen“, schmunzelt sie, „habe ich das ja alles gemacht, mich der Tortur ausgesetzt quasi“.

Ein Text von Lars Graue